Katalog déjà vu zur Ausstellung im Kunstverein Hildesheim, 2001, Text: Hanne Zech, Neues Museum Weserburg Bremen
Es ist gewesen
von Hanne Zech
Die traditionelle Fotografie ist sowohl durch die medientechnischen Bedingungen wie durch ihre Bindung an ein außerbildliches Referential in hohem Maße ein Medium der Erinnerung. In der unmittelbaren Präsenz des Augenblickes, den die Kamera festhält, wird alles, was im zeitlichen Fluss ist angehalten. Der spätere Abzug zeigt diesen Augenblick bereits als einen gewesenen. Gegenwart und Vergangenheit treten in der Fotografie unmittelbar zusammen. Um Gewesenes zu erinnern, bedarf es der Gegenwart als Auslöser des Erinnerungsvorganges, ebenso wie einer außerbildlichen Referenz, an das, was aus der Vergangenheit hervorgeholt wird.
Obwohl die Kamera alles wiedergibt, was sich vor ihr befindet, entsteht neben der zeitlichen auch eine räumliche Dimension durch den festgelegten Ausschnitt, die Perspektive, das Licht, aber auch das außerbildliche Referential. Zeit und Raum können eng miteinander verbunden werden. In einem solchen Spannungsfeld können sich eine Vielzahl von künstlerischen Strategien entwickeln, die Fragestellungen nach der Wirklichkeit der inneren und äußeren Welt, ihrer Abbilder und unserer Wahrnehmung untersuchen.
Der Augenblick, in dem ein bestimmtes Motiv in einer bestimmten Art und Weise fotografiert und dann später in ein Positiv vergrößert wird enthält alle Elemente des technisch objektiven, das durch die Kamera bestimmt wird, aber auch subjektive, das heißt im Subjekt des handelnden Fotografen oder des Betrachters begründeten. Die Grenzen sind fließend. Das was objektiv erscheint mag in höchstem Maße subjektiv sein und umgekehrt. Die Fotografie kann – anders als die Malerei – beide Elemente in sich vereinen. Dies macht sie auch zu einem Medium, das sich für konzeptuelle Ansätze eignet.
Die drei Werkgruppen, die Petra Kaltenmorgen in dieser Ausstellung präsentiert, befassen sich auf eine jeweils spezifische Art und Weise, sowohl mit den räumlichen und zeitlichen Koordinaten der Fotografie, wie mit Fragen des Verhältnisses von Vorbild und Abbild.
Ausgehend von dem Eigencharakter des Motivs wird in ihren Fotografien sehr konsequent die Bindung an ein außerbildliches Referential thematisiert.
Es scheint mir deshalb auch kein Zufall zu sein, dass sie in der Motivwahl auf scheinbar vertraute Genres des Stillebens und der Landschaft zurückgreift. Stilleben und Landschaft thematisieren traditioneller Weise das zeitliche und räumliche Moment. Petra Kaltenmorgen führt damit auch, als ein weiteres Referential, das ‚Bildarchiv‘ der Malerei ins Spiel, d. h. ein mit kultureller Bedeutung aufgeladenes Bildrepertoire unserer Wahrnehmung. Durch die Schwarz-Weiß-Fotografie entsteht eine Distanz zwischen realem Objekt und Abbild. Diese eröffnet neue Möglichkeiten der Reflexion über Wahrnehmung.
Das Stilleben thematisiert nicht nur Gegenstände des Alltags, sondern stellt sie in eine formale und inhaltliche Beziehung sowohl zueinander, wie zu ihrem Umraum. Das Abgebildete wird so im Bild mit Bedeutung aufgeladen. Dies geschieht in der Regel in Verbindung mit einem gesellschaftlich kulturell bestimmten Kodex von Wertigkeiten und Zugehörigkeiten.
Vor diesem Hintergrund möchte ich kurz jene Werkgruppen, in denen sich Petra Kaltenmorgen mit der Abbildung von Objekten beschäftigt, betrachten.
1994 entsteht eine Fotografie mit einem Apfel und einem Kochtopf mit Blumendekor, in dem ein Löffel steckt. Die Fotografie ist stark durch Hell-Dunkel-Kontraste geprägt, die Lichtquelle bleibt unsichtbar. Beide Objekte sind jeweils an den Bildrand gerückt. Der große Zwischenraum wird durch einen Horizont dominiert, der das Bild in eine dunkle und eine helle Hälfte teilt. Obwohl sie für sich stehen, wird ein starkes Bezugssystem der Objekte zueinander erzeugt. Aber sie laden sich nicht gegenseitig mit Bedeutung auf, wie es in einem klassischen Stilleben der Fall wäre. Es ist vielmehr, als würde der Betrachter aufgefordert werden, selbst ein solches Bezugssystem zu erzeugen. Dieser Aufforderungscharakter löst die Objekte aus ihrer stillen Selbstgenügsamkeit. Es entsteht Handlung, obwohl nichts auf der Fotografie von Handlung zeugt.
In anderen großformatigen Fotografien, wie einem Einkaufswagen oder einem Ball, werden die Objekte ganz aus ihrem Bezug zu Umraum oder anderen Dingen herausgelöst. Das Objekt selbst – meist frontal fotografiert – beherrscht die ganze Bildfläche. Das So-Sein der Gegenstände wird in ihrer Eigentümlichkeit und zugleich als Konstrukt medialer Praxis kenntlich gemacht. Der Gegenstand erscheint hier, wie von jeder möglichen Konnotation befreit und verweist auf sich selbst und die Art seiner Repräsentation. Die Fotografien sind auf MDF-Platten aufgezogen und betonen den objekthaften Charakter der Abbildung. Gerade durch die Isolierung des Objektes und seiner Selbstbezüglichkeit wird die Differenz zum realen Gegenstand deutlich.
In der Werkgruppe der ‚Blind Fields‘ befasst sich Petra Kaltenmorgen mit der Untersuchung von abgebildetem Motiv und Umraum. Die weißen Gegenstände lösen sich tendenziell auf der hellen grau-weiß nuancierten Oberfläche auf. Mit dem Wegnehmen des Umraumes in der ersten Werkgruppe ging eine starke Präsenz des Objektes einher, so existieren die Objekte der ‚Blind Fields‘ nur noch schattenhaft. Sie lösen sich nahezu auf als Teil des Umraumes. Wenn das Jetzt, die erste Werkgruppe charakterisierte, ist es ein Gerade-Noch* in den ‚Blind Fields‘. Das Verschwinden erzeugt eine Undeutlichkeit oder Vieldeutigkeit des Objektes und fungiert damit als Auslöser von Erinnerung und neuen Assoziationen. Es lädt sich so mit möglicherweise anderen Bedeutungen auf.
Das Projekt, das Petra Kaltenmorgen derzeit in Worpswede verfolgt, befasst sich mit Landschaft. Die großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen Landschaften im Dunkel. Vor dem helleren Himmel heben sich scherenschnittartig Baumgruppen, ein Birkenstamm oder Haus ab. Der Horizont und die formale Betonung eines Bildzentrums erzeugen trotz aller Dunkelheit ein Gefühl von Raum. Erst nach und nach erschließen sich dem Auge die differenzierten Binnenstrukturen in den fast schwarzen Tönen der Bilder. Sie lassen Wege, Blätter, Gräser erkennen. Es fällt auf, dass eine zeitliche und räumliche Spannung entsteht, zwischen dem, was auf den ersten Blick erfassbar ist und wie ein vertrautes Bildrepertoire erscheint, und dem, was erst langsam sichtbar wird, und einen Moment des Hier und Jetzt festhält.
Sich in Worpswede aufzuhalten, ist nicht möglich, ohne sich mit der Ortmetapher Worpswede auseinander zu setzen. Zu lange schon wurde und wird ein bestimmtes Bild von diesem Ort vermittelt, das sich unweigerlich zwischen den realen Ort und unsere Wahrnehmung schiebt. Es ist seit dem 19.Jahrhundert dieses typisch Worpswedische: Birkenstämme, Moorgräben, Katen, weiter Himmel … eine poetische Projektion der Kulturlandschaft, die sich als freie Natur darstellt.
Die Wirklichkeit dieser Landschaftsbilder hat weniger mit dem realen Ort zu tun, an dem sie verankert sind, als mit dem von ihm verbreiteten Bild. Die Landschaft, die gesucht wird, ist die bereits medial vermittelte. „Es ist, als hätten wir eines der dort gemalten Bilder betreten“ – so ein Städter im letzen Jahrhundert bei einem Besuch des Künstlerdorfes. Der reale Ort wird auf seine Stimmigkeit zum Abbild hin untersucht und nicht umgekehrt. Die Menschen suchen und finden ein künstliches Konstrukt, das bereits in ihnen existiert und den Anschein von Wirklichkeit erzeugt.
Petra Kaltenmorgen greift dieses Paradox auf, das wir auch aus der Werbung und den Massenmedien kennen. Sie fotografiert Orte und Plätze, von denen sie intuitiv das Gefühl hat, sie schon zu kennen. „Das Bild ist längst gemacht“ – sagt sie, „bevor ich es in der Dämmerung bei langer Belichtungszeit mit einer Großformatkamera aufnehme.“
Das Finden des Motivs, des Landschaftauschnittes ist bereits Erinnerung. Etwas in der Gegenwart löst diese Erinnerung aus, und Petra Kaltenmorgen lässt es zu, dass dies spontan und ohne Kalkül erfolgt. Sie lässt offen, was vorgestellt, was von außen präsentiert wird, was Zufall, was bewusst ist, denn das Bild, das wir uns von der äußeren Welt machen, wird nicht nur von dieser bestimmt, sondern ebenso von dem Bilderrepertoire in unserem Gedächtnis. Wir gleichen die verschiedenen Bilder gegeneinander ab und erzeugen damit unser eigenes Bild der Wirklichkeit, in dem vielleicht nur Projektionen zusammengeführt werden.
In den Fotografien von Petra Kaltenmorgen werden diese verschiedenen Wahrnehmungsebenen als Ähnlichkeiten und Differenzen sichtbar. Die Ähnlichkeiten in dem Typischen, Scherenschnittartigen der Worpsweder Landschaft. Die Differenz im Detail. Sie muss langsam aus den Variationen des Dunkels erschlossen werden.
Die Landschaft im dunklen Licht erzeugt gleichermaßen eine Stimmung des Versinkens, wie des geheimnisvollen Hervorholens aus den Schatten des Vergangenen. Wie schon die Fotografien der ersten Werkgruppen, haben auch diese einen starken Aufforderungscharakter. Fast wie in einem Sog, wird der Betrachter animiert in den Bild- und Zeitraum einzutauchen.
Verstärkt durch die Verwendung von Barytpapier entstehen malerisch anmutende Fotografien, deren Funktion in der Destillation einer Wahrnehmungserfahrung zu liegen scheinen. Die Fotografien geben Informationen frei und verschlingen sie. Draußen in der Natur entstehen Bilder über Bilder.
Bremen, 2002