Kunstsequenzen

6 Künstler aus Hannover im Künstlerhaus Göttingen, 1999, Texte Michael Stoeber
Friedhelm Falke, Hlynur Hallson, Petra Kaltenmorgen, Jörg Lange, Olav Raschke, Rüdiger Stanko

von Michael Stoeber

Die Idee der Göttinger Kunstsequenzen besteht darin, daß die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler in der einen oder anderen Weise mit artistischen Setzungen auf den Raum des Künstlerhauses reagieren. Ich denke, daß sich niemand bisher dieser Aufgabe so buchstäblich gestellt hat wie Petra Kaltenmorgen. Sie greift zwei Elemente – zwei Details, wenn man so will – des Raumes heraus und unterzieht sie einer fotografischen Introspektion. Es handelt sich um den Heizkörper und den Stromkasten. Einrichtungen, die elementarer Versorgung dienen, ohne die wir uns ein Wohnen in unserer Zeit gar nicht mehr vorstellen können. Andererseits rücken sie in ihrer relativen Modernität aber auch die Historie des Gebäudes umso stärker in den Blickpunkt. In dieser Eigenschaft folgen die Bilder von Petra Kaltenmorgen bei dieser Installation dem aus der Rhetorik bekannten, metonymischen Verfahren. Die Metonymie benennt ein Teil und meint das Ganze.

Die Metonymie erhält in der fotografischen Installation von Petra Kaltenmorgen Bekräftigung durch eine weitere, auch der Rhetorik entlehnte Figur, die der Wiederholung. Durch Wiederholung akzentuiere und unterstreiche ich; ich lenke die Aufmerksamkeit des Betrachters; ich insistiere auf dem, was ich herausstelle. Catos ‚ceterum censeo‘, mit dem der Senator seine römischen Mitbürger, lakonisch und stereotyp, immer wieder vor der Gefahr einer punischen Invasion unter Hannibal warnte, ist nur ein, wenn auch sehr berühmtes, Beispiel dieses Verfahrens. Durch die gleich bleibende Wiederholung ihres Motivs, drei Mal im Falle der Heizung, vier Mal im Falle des Stromkastens, setzt die Künstlerin sozusagen ein Signal. Es sagt: „Achtung, hier ist etwas von Interesse, schaut genauer hin!“ Und in der Tat schenken wir in der Folge dem Motiv eine Beachtung, die wir ihm ursprünglich verweigert hätten auf Grund seiner augenscheinlichen Banalität. Im übrigen wird diese Bedeutung noch verstärkt durch die Positionierung der Bilder im Raum, zumindest ist das bei dem Heizkörper augenfällig. Die Ausrufezeichen, mit denen er auf sich aufmerksam macht, rufen noch lauter, weil sie an der Schauwand, an der Präsentationswand des Raumes verteilt sind.

Bei dieser Positionierung fällt noch eines auf: die Bilder der Heizköper befinden sich in gleicher Augenhöhe wie die realen Heizkörper und erzwingen damit geradezu den unmittelbaren Vergleich. Bild und Abbild rücken in den Blick. Es fällt auf, daß die Künstlerin bei der fotografischen Repräsentation des Gegenstandes von festen Parametern, von festen Größen ausgegangen ist, wie wir sie auch sonst in ihrem Werk finden. Heizkörper und Stromkasten sind deutlich in das Bildformat eingespannt, das heißt, die Umrisse der Gegenstände bestimmem mit ihren Extremitäten die Grenzen des Bildes. Es gibt also kein oder so gut wie kein ablenkendes Umfeld. Damit spielt auch die Spannung und die Interaktion zwischen Bildgrund und Bildfigur so gut wie keine Rolle. Nichts hindert die Konzentration auf den reinen Gegenstand. Man sieht deutlich, daß im Falle des Heizkörpers Wand und Luftraum nur ins Bild ziehen auf der rechten Bildkante, wo der Thermostat und das Schraubventil sichtbar werden. Im Falle des Stromkastens schließen sogar alle vier Seiten des Gegenstandes bündig mit den Bildkanten ab. Aber selbst wenn Petra Kaltenmorgen weniger konstruktiv gebaute und geformte Gegenstände fotografiert, sorgt sie durch einen neutralen, weißen Hintergrund dafür, daß die Fokussierung auf ihr Sujet unabgelenkt stattfinden kann.

Eine ebenso wichtige Entscheidung wie das Format, im Bedarfsfall natürlich auch die Vergrößerung, ist Kaltenmorgens Entscheidung für das Medium der Schwarz-Weiß Fotografie. Aus der Geschichte der Malerei kennen wir den berühmten Streit, wem bei der Wirklichkeitswiedergabe der Vorrang zu geben sei, der Farbe oder der Linie. Das war nie ein nur akademischer oder handwerklicher Streit. Da ging es um entschieden mehr. Ein Plädoyer für die Farbe ist immer auch ein Plädoyer für das Gefühl und für die Emotionalisierung, während die Verfechter der Linie deutlich der Kognition und dem Erkenntnisinteresse den Vorzug geben. Es ist ja kein Zufall, daß wir immer noch und immer wieder der Schwarz-Weiß Fotografie einen höheren Grad an Realitätssinn zuschreiben, daß wir mit ihr den Gestus des Authentischen und Dokumentarischen verbinden, obwohl sich die Welt nicht schwarzweiß, sondern farbig malt. Schwarzweiß, das ist die Opposition klarer Unterscheidungen, das sind die Farben, bzw Nichtfarben der Theorie. Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen, wie wir alle wissen. Mit der Entscheidung für die Schwarz-Weiß Fotografie stützt Petra Kaltenmorgen erst einmal ihren Anspruch auf klares Erkennen und Wiedererkennen, auf nüchterne, präzise, unsentimentale Repräsentation ihrer Gegenstände.
Die Nähe des Abbildes zum Bild wird noch weiter forciert, wenn die Künstlerin, wie sie es ebenfalls in der Regel und in jedem Falle in der Göttinger Installation tut, ihr Foto auf eine zentimeterstarke Holzplatte kaschiert. Damit wird das Foto zum Fotoobjekt und bekommt in der so gewonnenen Gegenständlichkeit gesteigerte Affinität zum Motiv. Dazu trägt auch die Entscheidung der Künstlerin für das von ihr ausschließlich verwandte, matte Barytpapier bei, das – anders als der sonst übliche und sehr viel preiswertere Kunststoff – ein äußerst lebendiges, sehr sinnliches, und in vielen fein differenzierenden und modulierenden Graustufen spielendes Bild des Gegenstandes ermöglicht.

All diese Strategien dienen also dazu, ohne theatralische Inszenierung, ohne technische Tricks und artifizielle Verfremdungen ein möglichst wirklichkeitsgetreues Bild vor Augen zu stellen. Warum, wozu, was wird dadurch erreicht? Geht es um eine Pathetisierung des Banalen? Wohl kaum, dafür ist der Gestus der Bilder zu nüchtern und zu genau. Um Überhöhung geht es also nicht, wohl aber um eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber den Dingen des Alltags, den oft einfachen Gegenständen, mit denen wir jeden Tag umgehen und die uns nützlich sind, ein Stuhl, ein Tisch, eine Zuckerdose ein Wäschemuff, ein Einkaufswagen, ein Kerzenleuchter. Dinge, die uns jeden Tag annehmlich machen, ohne daß wir sie noch spezifisch wahrnehmen würden. Dinge, die wir in der Regel – und dann umso schmerzlicher – wahrnehmen, wenn sie auf einmal, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr da sind und wir sie missen müssen. Dinge, in denen wir uns spiegeln, die ein Teil nicht nur unseres Lebens, sondern im Grunde von uns selbst sind. Die nicht nur Gebrauchsspuren, sondern in den Gebrauchsspuren die Spuren unseres Lebens, unserer Biographien tragen. So wie auch Häuser und Wohnungen unsere Physiognomien tragen. So wie das Haus hier und die Räume in ihm ganz viele Gesichter haben, vergangene und gegenwärtige.

Petra Kaltenmorgen hat ihre künstlerische Karriere als Plastikerin begonnen, bevor sie sich auf die Fotografie konzentrierte. Für den Plastiker ist die Auseinandersetzung mit dem Raum, dem ganz konkreten Luftraum wichtig. Kaltenmorgens Fotografien reduzieren diesen Raum auf ein Minimum. Und doch – in der äußersten Konzentration auf den Gegenstand gewinnt sie dem Gegenstand in ebenso paradoxer wie logischer Weise wieder ein Maximum an Raum und Weite ab und zwar in örtlichem wie zeitlichem Sinne. „Je näher man die Dinge ansieht, desto ferner schauen sie zuruck“, heißt es bei Karl Kraus und genau in dieser dialektalen Verknüpfung haben auch die Gegenstände von Petra Kaltenmorgen, porengenau und nah aufgenommen, ganz viel Ferne. Und damit sind ihre Bilder eben doch viel mehr als nur präzise Abbilder der Gegenstände. Sie werden welthaltig, sind Metonymien im übertragenen Sinne. Ihre scheinbar vertraute Signatur gibt ein Geheimnis preis. Es ist das Geheimnis der Existenz. Ein Geheimnis, das wir jeden Tag erfahren können, aber an dem wir regelmäßig oft genug achtlos vorbei laufen. „Die Mysterien des Lebens finden im Hauptbahnhof statt“, ließ Josef Beuys uns wissen. Kaltenmorgen entbirgt uns das Geheimnis der Dinge, weil sie hinschauen kann, ruhig, unaufgeregt, geduldig. Weil sie mit Muße an die Arbeit geht. Wer mit einer großen Plattenkamera arbeitet, muß einfach Zeit haben, das ist kein Apparat für Knipser. Wenn Kaltenmorgen auf den Auslöser drückt, dann hat sie ihren Gegenstand im Geiste schon so lange angeschaut – angeschaut im Sinne einer Kontemplation, einer Versenkung, einer Wesensschau – das ihr Bild eine Summe zieht. Was wir sehen, ist die Essenz der Dinge.

So ist die Mimikry dieser Fotografien auch alles andere als tautologisch. Die Differenz zwischen Bild und Abbild erinnert uns an eine Lektion. Für die Malerei hat sie der belgische Maler Margritte geliefert mit seinem berühmten Bild einer Pfeife, das er mit dem ebenso schlichten wie schlagendem Satz kommentierte, das sei keine Pfeife. Natürlich nicht, es ist das Bild einer Pfeife. Kaltenmorgen zeigt uns Bilder von Heizkörpern und einem Stromkasten, die mehr sind, als sie sind. Eben weil sie Bilder sind. Bilder, die ein künstlerischer Wille transformiert hat, purifiziert hat. Sie sind, gesammelt im Absprung, mehr als sie selbst, wie es bei Rilke heißt.